Vor gut 2 Monaten habt ihr den letzten Bericht von Lorin lesen können. Er war nach seiner Verletzungspause wieder zurück auf den Ski und voller Zuversicht freute er sich auf die ersten Renneinsätze noch vor Weihnachten. Seither sind zwei schwierige Monate vergangen – schwierig, ganz besonders für Lorin, aber auch für den Rest der Familie. Nach Absprache mit Lorin schreibe ich aus Sicht der Familie (des Vaters) einen Blogeintrag (kurz zu bleiben ist mir bei diesem Thema nicht gelungen, sorry). Derweil fokussiert sich Lorin aufs Skifahren, leider hatte er nicht die Kraft dazu, sich früher über den Blog zu melden. Er wird aber am Ende dieses Eintrages auch noch ein paar Worte schreiben.
Schwierige Monate – was soll das heissen? Wie bei allen Karrieren, besonders im Spitzensport, schleichen sich hier und da Probleme ein. Zu Beginn denkt der Athlet nicht an Probleme, es sind einfach schlechtere Tage, die sich bestimmt wieder zu guten Tagen wenden werden. Im Training folgen auf einen besseren Slalom- oder Riesenslalomlauf, drei, vier weniger gute. Trotz gutem Gefühl kommt man immer weniger an die Zeiten der Teamkollegen heran. Es reiht sich ein nicht so guter Tag zum anderen bis sich langsam die Verunsicherung einschleicht. Das Vertrauen, vor allem in sich selbst, aber vielleicht auch in das Umfeld wie das Team, die Trainer und Betreuer und sogar in die Familie etc. lässt nach.
Wenn nichts mehr klappen will, dann nisten sich Sinnfragen im Kopf ein. Sinnfragen beschäftigen und lenken ab, Sinnfragen rauben einem die Energie und dementsprechend kann die notwendige Leistung nicht mehr abgerufen werden.
- Was treibt mich an, am frühen Morgen und in Dunkelheit aufzustehen und einen riesigen Rucksack und mehrere Paar Skis an den Berg zu schleppen?
- Will ich mich weiterhin bei eisigen Temperaturen auf den Lift setzen und einen Lauf nach dem anderen fahren?
- Bin ich wirklich bereit, meine Gesundheit Tag für Tag aufs Spiel zu setzen?
- Macht der unglaubliche Aufwand noch Sinn und will ich das überhaupt noch?
- Ist es richtig, dass ich all die vergangenen Jahre alles und wirklich alles dem einen Ziel untergeordnet habe? Einem Ziel, welches so weit in die Ferne gerückt ist?
- Und falls ich mein Ziel doch erreichen werde – können wir in zehn Jahren den Wintersport noch wie heute ausüben können?
Fragen über Fragen – der Zweifel macht sich breit, das Vertrauen schwindet, die Überzeugung ist nicht mehr vorhanden, die Leistung nicht abrufbar.
Lorin hat sich vor ein paar Wochen uns gegenüber «geoutet». Ein Outing, welches für ihn viel Überwindung brauchte. Wie erzähle ich es meiner Familie, die immer voll und ganz hinter mir steht und die viele Jahre lang ihre eigenen Bedürfnisse meinen persönlichen Zielen untergeordnet hat? Ein weiterer Gedanke, der den Fokus auf den Sport trübt. Lorin hat uns seine Sinnfragen offengelegt und uns erklärt, dass die Freude am Skirennsport verblasst ist.
Für uns Eltern und auch für Alani, Lorins Schwester, die sich in den vielen vergangenen Jahren so oft im Schatten ihres strahlenden Bruders bewegen musste, war dies ein überraschender und schwer verdaulicher Schock. Lorin, der Fokussierte, Lorin der Macher, Lorin der Junge, der seit Jahren ein riesiges Feuer für seinen Skirennsport im Herzen trägt, Lorin der Sportler der sich immer und immer wieder an sein Limit bringt und sich vorbehaltlos dem Trainingsplan unterwirft. Er, der seit Jahren wegen genau diesem Trainingsplan auf coole Ferien verzichtet und seine Freizeit im Kraftraum oder auf den Pisten verbringt. Was ist passiert und vor allem was können wir tun, wie können wir ihm helfen und ihn unterstützen? Wir sind überfordert und auch traurig.
Lorin ist in einen mentalen Strudel geraten, die hoch gesteckten Ziele konnte er sich nicht erfüllen. Wir haben es verpasst, über erreichbare Zwischenziele zu sprechen. So konnte er sich in den letzten Wochen, Monaten, ja sogar in den letzten 2 Jahren kaum über Erfolge freuen. Mehr oder weniger nur Misserfolge. Vor 3 Jahren ist er mit einer unglaublichen Saison auf der Erfolgswelle geritten. Dass der Einstieg in die FIS Rennen eine andere Welt sein wird, das wusste er genauso wie auch wir. Seine eigenen – und ich gebe es zu – auch meine Erwartungen waren dennoch zu hoch. Rundherum haben sich seine Teamkollegen mit guten Resultaten auf den Startlisten nach vorne kämpfen können. Bei Lorin klappte es nicht mehr so wie er es gewohnt war, startete weit hinter seinen Kollegen und musste sich mit schwierigen Pistenverhältnissen herumschlagen – und irgendwann kommt der mentale GAU, die Sinnfragen kommen auf und die Blockade ist Tatsache, das Vertrauen verloren. Nicht nur sich selbst, auch dem Umfeld will ein Athlet gerecht werden – so viele Leute und Sponsoren unterstützen die Karriere grosszügig und helfen einem auf diesem langen Weg. Eine weitere druckaufbauende und leistungsvermindernde Frage taucht auf: Kann ich meinen Sponsoren und Unterstützern noch gerecht werden? Und so lädt sich der Sportler immer mehr Druck auf, bis der bereits dünne mentale Boden zerbricht. Dann fühlt man sich im freien Fall, man fühlt sich verloren, man fühlt sich alleine und man sieht sich als Versager. Wir Eltern und seine Schwester sind plötzlich genauso verloren – wie geht man mit einer solchen Situation um? Mehr als Halt geben, Unterstützen und Motivieren können wir nicht. Innerhalb der Familie die richtigen Worte zu finden, ohne Druck zu erzeugen, ist sehr schwierig.
Nach einigen Gesprächen, unter anderen mit seiner Psychologin hat sich Lorin eine Auszeit gegönnt – notabene auf der Piste, aber ohne irgendwelchen Leistungsdruck – und sich wieder etwas fangen können. Nach dieser kurzen Pause, bei einem erneuten FIS Slalom in Saanen, ist ihm bereits ein erster kleiner Schritt gelungen. Endlich konnte er sich nach dem 1. Lauf unter den besten 30 positionieren, was ihm im 2. Lauf einen top Startplatz eingebracht hat. In diesem hat er zeigen können, dass er mit einer massiv besseren Piste zu guten Leistungen fähig ist. Keine 2 Sekunden hat er in diesem Lauf auf den Besten verloren. Eine sehr beachtliche Leistung, wenn man seinen momentanen mentalen Zustand betrachtet. Leider hat er seither in zwei weiteren Slalomrennen die ersten 30 nach dem ersten Lauf einmal um winzige 12 und das zweite Mal um mickrige 7 Hundertstelsekunden verpasst. Anstatt als erster oder zweiter starten zu können, wurde es der 31. resp. 32. Startplatz – die Pistenverhältnisse sind dementsprechend schlecht und ein akzeptabler Rückstand kaum erreichbar. Die beiden letzten Slaloms im österreichischen Zams ist er im 2. Lauf «all in» gefahren und leider beide Male ausgeschieden. Trotzdem konnte er auf der neuen FIS-Punkteliste seine Punkte um ein paar Zähler verbessern.
Lorin, wir wünsche dir ganz viel Kraft und Zuversicht. Die Voraussetzungen stimmen, du hast das Potential, um vorne mithalten zu können und wir glauben daran, dass auch dein Kopf frei wird und wieder in top Form kommt. Rückschläge sind wichtig im Laufe einer Karriere. Wenn du es schaffst, dich an den Platz zurück zu kämpfen, an dem du dich siehst, dann wird das Vertrauen für deine weitere Karriere doppelt vorhanden sein. Deine Familie ist felsenfest überzeugt, dass du die Fähigkeiten hast, ganz Grosses zu erreichen! Du hast schon so vieles erreicht. Wir werden alles für dich tun, damit du das Vertrauen und die Freude an deinem geliebten Sport wiederfindest. Das Feuer musst du selber wieder zum Lodern bringen und wir werden versuchen, dir den richtigen Zündstoff zu liefern.
Heja Lorin!!!
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Input von Lorin
Gerne will auch ich noch zu Wort kommen und den Text meines Vaters kurz kommentieren. Es ist Tatsache, dass ich mich in einer momentan schwierigen, mentalen Situation befinde. Auch für mich war es ein kleiner Schock, als ich feststellen musste, dass ich meine so geliebte Passion nicht mehr mit dem gleichen Feuer ausleben kann wie früher. Nach vielen Gesprächen in meinem Umfeld, vor allem mit meiner Sportpsychologin, konnte ich mich etwas fangen und habe wieder zurück in den Rennrhytmus gefunden.
Wie mein Vater geschrieben hat, konnte ich mich bereits wieder um wenige Punkte verbessern und mich mit einigen Erfahrungen weiterentwickeln. Dennoch fehlt einiges, damit ich wieder bei den Besten mitmischen kann. Für mich ist dies keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Kopfes. Ab einer gewissen Stufe, auf einem hohen Niveau, wird der Skirennsport zu einer Kopfsache. Das technische, skifahrerische Können rückt bei allen Athleten immer näher zusammen und es geht «nur» noch um eminent wichtige Kleinigkeiten wie Timing und die mentale Einstellung, voll an das Limit gehen zu können und alles aus dem Schwung herauszuholen. Genau hier stehe ich an. Ich stehe mir selbst im Weg. Momentan kann ich nicht das letzte Risiko eingehen, um den Schwung noch aktiver zu fahren, um noch die letzten Prozente herauszuholen. Wenn ich diese Überzeugung und das volle Selbstvertrauen wieder finde, dann werde ich auch diese Blockade lösen können. Ich bin überzeugt, dass ich in diesem optimalen Zustand noch einiges herausholen und erreichen kann.
Momentan arbeite ich daran, dass ich mir einige im Kopf schwirrende Fragen beantworten, resp. diese aus dem Weg räumen kann. Für mich ist aber klar, egal wie und ob ich das schaffen werde oder nicht. Alles was ich bisher erreichen konnte, was ich erleben durfte und welche Fähigkeiten ich mir angeeignet habe, all das kann mir niemand streitig machen. Und auf all das bin ich sehr, sehr stolz!
Auf jeden Fall bedanke ich mich bei allen, die mich immer so unglaublich unterstützen und allen die auch in dieser schwierigen Zeit hinter mir stehen und mir Kraft geben. Ich entschuldige mich, dass ich mich nicht früher aufraffen konnte, mich bei euch zu melden. Auch wenn ich es nicht versprechen kann, ich werde versuchen, mich wieder regelmässiger zu melden und euch auf dem Laufenden zu halten.
Ganz liebe Grüsse und vielen Dank!
Lorin